das ist doch mal einen C&P wert!


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Abgeschickt von gerhard schröder am 05 April, 2004 um 14:20:37:

Helmut Kohl - Kanzler des Niedergangs

Von Gabor Steingart

Die Analyse einer geheimen Regierungskommission zum Aufbau Ost ist eine Horror-Bilanz. 1,25 Billionen Euro pumpte die Regierung in den Osten - zum Großteil ohne Wirkung. Die Ursachen für das Desaster schuf Helmut Kohl, der als Kanzler den Niedergang Deutschlands zusehends beschleunigte.

Während der 16-jährigen Amtszeit Helmut Kohls haben wir drei verschiedene Kanzler erlebt, wovon der mittlere die anderen deutlich überragte. Kohl I. wäre kaum der Erinnerung wert. Den dritten hätte es ohne den zweiten wahrscheinlich gar nicht mehr gegeben.

In Phase eins, die mit der Amtsübernahme im Oktober 1982 begann und im Sommer 1989 endete, war Kohl der Kanzler des Erwartbaren. Er fing an, jene Arbeiten zu erledigen, die das Vorgänger-Kabinett nicht mehr geschafft hatte. Die Wirtschaft war in krisenhafter Verfassung, der Staat ächzte unter der Schuldenlast, weshalb die Gefahr der Geldentwertung weiterhin drohte. Es musste also gehandelt werden, was die neue Regierung zunächst auch tat.

Kohl I - dröhnendes Mittelmaß

Kohl I. kürzte die Arbeitslosenunterstützung, steigerte die Eigenbeteiligung der Krankenversicherten, strich das Schüler-Bafög. Auch mit Hilfe eines weltweiten Aufschwungs gelang es ihm, die Neuverschuldung des Bundes erstmals seit langem wieder sinken zu lassen - von 31,5 Milliarden Mark im Jahr 1983 auf 22 Milliarden Mark 1985 und 1986. Ein schöner Erfolg - der allerdings Episode blieb.

In der erneut einsetzenden Wirtschaftsflaute stieg die Kreditaufnahme des Bundes wieder an, von 27,5 Milliarden Mark 1987 auf erneut über 35 Milliarden Mark 1988. Kohl hatte ein paar schnelle Etatkürzungen mit Reformen verwechselt. Früh wusste man also über Kohl Bescheid: Er war Kostendämpfer und Ausgabenbremser, aber nicht Staatssanierer. Das Inszenieren von Tatkraft lag ihm deutlich besser als das tatsächliche Tun.

Kohl verkörperte vom ersten Tag an das, was Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt in ihrer psychologischen Politikbetrachtung "Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber" als den typischen Amtsinhaber charakterisieren: "Er steht wie ein Fels im Meer; er ist so unbeweglicher als jene, die befürchten müssen, von den Wellen dorthin getragen zu werden, wo sie nicht hinwollen dürfen und können. Dies gibt ihm in den Augen der Wähler den Anschein der Kraft, der "force tranquille" während er in Wirklichkeit lediglich von einer neurotischen Borniertheit ist, die unanfechtbarer ist als die des gemeinen Bürgers. Die Solidität seiner Abwehrmechanismen gibt ihm jene Robustheit, die eine Bedingung für seinen Aufstieg und Erfolg ist. In aphoristischer Kürze: Der politische Erfolg des Amtsinhabers gründet auf seiner überdurchschnittlichen Durchschnittlichkeit.

Was auch immer Kohls "geistig-moralische Wende" bedeuten sollte, mit der er am Anfang sein Dahinregieren zu erleuchten versuchte, den Anti-Gewerkschaftsstaat bedeutete sie nicht. Er war kein deutscher Ronald Reagan und keine germanische Thatcher-Variation, hatte es von sich allerdings auch nie behauptet. Helmut Kohl ging visionsfrei seinen Amtsgeschäften nach, war ein Mann von dröhnendem Mittelmaß, wie ihn die Volksparteien immer wieder hervorbringen.

Er hatte seine politische Kraft in den eigenen Aufstieg investiert, und das heißt in die Beseitigung von Gegnern und Rivalen, was sich für ihn hochprozentig verzinste. Dem Land hat Kohl so keinen rechten Dienst erweisen können. Sein Ziel hätte dann ja von Anfang an lauten müssen: weniger Arbeitslose, weniger Schulden, weniger Bürokratie. Sein Ziel aber hieß: weniger Strauss, minimal Späh, gar kein Biedenkopf. Die Politiker bekämpfen lieber einander als die Zustände.

Mit bloßem Auge ist der Regierungswechsel von Schmidt zu Kohl auf dem Armaturenbrett der Volkswirtschaft kaum zu erkennen, auch wenn viele Konservative das noch immer glauben: Ja, die Sozialleistungsquote sank, bis zur deutschen Einheit um immerhin 12 Prozentpunkte. Nein, die Ware Arbeitskraft hat sich deswegen nicht verbilligt. Die Lohnnebenkosten stiegen weiter - bei durchschnittlich verdienenden Arbeitern oder Angestellten von 34 Prozent des Bruttogehalts im ersten Regierungsjahr auf 36 Prozent im letzten Jahr vor der deutschen Einheit.

Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Franz Josef Strauss diagnostizierte im Frühjahr 1988 öffentlich "einen erschreckenden Mangel an politischer Linie"; der baden-württembergische Landeschef Lothar Späth stellte in deftigen Worten fest, dass es die Regierung nicht vermocht hatte, die Reformideen der Oppositionszeit in Regierungshandeln umzusetzen: "Die Perlen liegen vor den Säuen."

Und dieser Helmut Kohl, das fügten Späth und seine Freunde gern hinzu, wenn auch etwas leiser, werde sie niemals zu einem wirklichen politischen Schmuckstück zusammensetzen können. Eine Rebellentruppe aus der eigenen Partei, vorneweg Späth, Heiner Geissler, Rita Süssmuth und Kurt Biedenkopf, spielte sogar mit der Idee, ihn als Parteichef zu stürzen. Doch da war der rettende Sommer 1989 schon erreicht. Im Ostblock brodelte es, die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Budapest wurden zum Fluchtpunkt einer Bewegung, die Europa - und bald auch Helmut Kohl - verändern sollte.

Der Amtsinhaber wachte auf: Die Geschichte gab ihm eine zweite Chance, wie sie im politischen Alltag nicht allzu häufig vorkommt. Kohl hatte nichts getan, sie vorzubereiten, zu beschleunigen oder sonstwie zu befördern. Er wurde Geschichte, bevor er daranging, sie zu machen. Henry Kissinger hatte über die Ära Schmidt gesagt: "Die Geschichte hat ihm übel mitgespielt, weil sie ihm nicht die grosse Chance gab, die seinem Talent entsprochen hätte."

Kohl dagegen wurde reich beschenkt; als Kanzler im Abwind, dessen Beliebtheit mässig und dessen ökonomische Bilanz mittelmässig war, hätte er auf der hinteren Bank der deutschen Kanzler Platz nehmen müssen: Irgendwo zwischen Kiesinger und Erhard, in Sichtweite von Schmidt, weit weg von Adenauer und Brandt.

Im Herbst 1989 trat dann zwar kein neuer, aber doch ein anderer Kohl vor das Publikum. Ein Mann, der zupackte, nicht zauderte, der die Gelegenheit erkannte und nutzte, der sich von seiner Grundüberzeugung, die deutsche Einheit vollenden zu wollen, von niemandem mehr ablenken ließ: Nicht von den DDR-Regierenden, die ihm in der Stunde allergrößter Not eine Vertragsgemeinschaft zweier deutscher Staaten andienten, nicht von den Sozialdemokraten, die an eine Konföderation dachten und damit auf dem Weg zur Einheit einen Zwischenschritt eingelegt hätten. Kohl stand nun mit auffälliger, ja beeindruckender Selbstsicherheit da und tat, was er bisher nur im Ausnahmefall getan hatte: Er führte.

Kohl II - aufgeschossen zu historischer Größe

Zum Glanzstück geriet ihm jener "Zehn-Punkte-Plan", der zugleich sein Fahrplan zur Deutschen Einheit werden sollte. Mit der Ausarbeitung war der aussenpolitische Berater Horst Teltschik am 23. November 1989 beauftragt worden. "Es war der Zeitpunkt gekommen, öffentlich die Meinungsführerschaft zu übernehmen", notierte Teltschik in seinem Tagebuch. Die Vorarbeiten im Kanzleramt waren abgeschlossen, als Helmut Kohl am Wochenende vom 25. auf den 26. November 1989 im heimischen Oggersheim daranging, dem Plan seinen Stempel aufzudrücken.

Ehefrau Hannelore tippte auf der Reiseschreibmaschine, steuerte "manch wertvolle Anregung" bei, wie die beiden Journalisten Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth in ihrer präzisen Rekonstruktion der Ereignisse festhielten. Aus der Ferne war mehrfach der Staatsrechtler und ehemalige CDU-Verteidigungsminister Rupert Scholz zugeschaltet, vor Ort saßen dem Ehepaar Kohl zwei Geistliche zur Seite, die Gebrüder Ramstetter. Studiendirektor im Ruhestand der eine; Stadtdekan in Ludwigshafen der andere. Beide hatten des öfteren schon an Kohls Redemanuskripten mitgewirkt.

Der Kanzler, den viele seiner Parteifreude bis dahin als Zauderkünstler beschrieben hatten und dessen Unsicherheit sich oftmals hinter schneller Reizbarkeit zu erkennen gab, war nun ganz bei sich. Kohl-Biograph Jürgen Leinemann: "Unter neuer Beleuchtung wirkte auf einmal positiv, was bisher als Nachteil galt. Dass er phantasiearm ist, schützte den Kanzler jetzt vor den Ängsten über den ungewissen Ausgang seines Tuns. Er ließ sich auch keine einreden."

Kohl II. traute sich Dinge zu, die Kohl I. sich strikt untersagt hätte. Ausgerechnet der Mehrfachabsicherer verzichtete darauf, Briten und Franzosen vorab über seinen Zehn-Punkte-Plan zu informieren. Selbst dem US-Präsidenten ließ er erst wenige Stunden vor seiner Verkündung auf einer verschlüsselten Datenleitung das historische Dokument übermitteln, mit der ausdrücklichen Aufforderung, in den anstehenden Gesprächen mit den Sowjets "keinen Festlegungen zuzustimmen, die den Handlungsspielraum unserer Deutschlandpolitik einschränken könnten".

Schon das war deutlich, aber Kohl wurde in dem damals vertraulichen, mittlerweile öffentlichen Begleitschreiben an George W. Bush senior noch deutlicher. Er sprach der Supermacht rundweg das Recht zum Einschreiten ab: "Freiheit, und Selbstbestimmung sind die Grundwerte, auf denen unser Bündnis beruht. Sie sind auch der Kern der deutschen Frage. Niemand hat das Recht, sie den Deutschen in der DDR zu verwehren."

Die Wiedervereinigung des zweigeteilten Landes wurde Realität und zwar schneller, als viele gedacht hatten. Innerhalb weniger Monate katapultierte sich Kohl, der "Kanzler der Einheit", in die erste Reihe der deutschen Nachkriegskanzler. Sein Platz im Geschichtsbuch war damit gesichert, neben Adenauer und Brandt, wenn nicht gar in der Reihe davor. Allerdings ist dieses Kapitel deutscher Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben. Der Preis der Einheit, von dem so häufig die Rede ist, war kein Festpreis. Er steigt von Monat zu Monat, addierte sich in den dreizehn Jahren, die seither vergangen sind, auf über 1250 Milliarden Euro.

Das bedeutet ökonomisch nichts anderes, als dass der Volkswirtschaft im Westen in beträchtlichem Maße Energie entzogen wird, ohne dass ein eigener Energiekreislauf im Osten bisher in Gang kam. Denn die dortige Transfer-Ökonomie ist allein nicht lebensfähig und, bedenklicher noch, sie ist diesem Ziel in den letzten Jahren auch nicht näher gekommen.

Der Aufbau-Ost trägt seinen Namen zu Unrecht, er ist in allererster Linie ein Aushalten-Ost und hat die Kernschmelze der gesamten Volkswirtschaft enorm beschleunigt. Die Politiker schweigen, weil sie die Gefühle von 16 Millionen ehemaliger DDR-Bürger nicht verletzten wollen und die Westdeutschen nicht aus der Solidarität entlassen können. öffentlich finden sie am Aufbau im Osten die Ergebnisse falsch, aber nicht das, was diese Ergebnisse produziert.

Kohl III - der Kanzler des beschleunigten Niedergangs

Es geht hier nicht um die großen Irrtümer des Helmut Kohl. Die hat es reichlich gegeben, sie waren in einer historischen Situation wie dieser unvermeidbar. Kohl konnte das Ausmaß seiner Entscheidungen zum Zeitpunkt, als er sie fällte, nicht absehen. Er musste die Experten übergehen, wollte er das politische Ziel nicht gefährden. Das Risiko des Irrtums ist für den, der daran geht, Geschichte zu gestalten, Teil der Geschäftsbedingungen. Betrachten wir noch einmal jenen 18. Mai 1990, als Kohl anlässlich der Unterzeichnung des Vertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zu den Bürgern der DDR sprach.

Wir stellen schnell fest, dass der Einheitskanzler keine andere Möglichkeit hatte als die, den Menschen die Unwahrheit zu sagen: "Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft bietet Ihnen alle Chancen, ja die Gewähr dafür, dass Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, dass Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder blühende Landschaften in Deutschland sein werden, in denen es sich für jeden zu leben und zu arbeiten lohnt."

Heute wissen wir, dass von "blühenden Landschaften". Ökonomisch nicht die Rede sein kann und dass sich das Arbeiten für sehr viele als echte Unmöglichkeit herausstellt, die Marktwirtschaft bietet eben, wenn sie funktioniert, die Chance zum Aufstieg, aber niemals "die Gewähr". Diese Übertreibungen, später der Grund mancher Enttäuschung im Osten, sollten wir Kohl nicht vorwerfen: Erstens glaubte er, was er sagte, weil es viele glaubten. Zweitens schienen derartige Lockgesänge angesichts der starken Fluchtbewegung von Ost nach West politisch geboten, denn drittens war die staatliche Einheit noch nicht erreicht und jede politische Destabilisierung konnte die Alliierten zurück auf den Plan rufen. Das kühne und am Ende unerfüllbare Versprechen war also Teil des Einigungswerkes.

Die Vereinigung war politisch, historisch, kulturell und sicherheitspolitisch ein Zugewinn. Ökonomisch war sie nicht nur ein schlechtes Geschäft, sie war ein Desaster. Rund 110 000 Quadratkilometer Land mit 16 Millionen Menschen sind hinzugekommen, deren Wohnungsbestand zu 70 Prozent aus der Zeit vor Gründung der DDR stammte, deren industrielle Produktivität bei weniger als einem Drittel der westdeutschen lag. Diese Produktivität wurde erzielt mit einem Kapitalstock, der weitgehend verschlissen war und, wie sich später herausstellte, unter Weltmarktbedingungen sogar einen Minussaldo in dreistelliger Milliardenhöhe aufwies.

Die Grundstücke waren oft chemisch kontaminiert, der Schwefeldioxidausstoß lag um das Siebenfache über dem westdeutschen und um 50 Prozent über dem ungarischen Niveau, die Fabriken waren mit Schulden belastet, die im Zuge der Währungsumstellung den Neuanfang erschwerten und vielerorts unmöglich machen sollten. Selbst die niedrige Produktivität war nur so lange real, wie die Märkte für deren Waren existierten.

Mit der Einführung frei konvertierbarer Westmark aber, dem nun einzigen Zahlungsmittel, war der bisherige Markt in Osteuropa entfallen. Rund 900 000 Arbeitsplätze in der DDR hingen allein vom Handel mit der Sowjetunion ab, rund 10 Prozent aller Beschäftigten also. Die neuen Preise in der neuen Währung konnte dort niemand zahlen. Die DDR fiel als Handelspartner aus, womit die gesamte Arbeitsteilung im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammenbrach. Am 28. Juni 1991 löste sich dieser ökonomische Staatenverbund offiziell auf.

Der mehr oder minder wertlos gewordene Produktionsapparat der DDR wurde von der Treuhandanstalt privatisiert oder liquidiert und oftmals beides hintereinander. Die geglückte Privatisierung zählte eher zur Ausnahme, weshalb die Superbehörde ihre Arbeit Ende 1994 ohne große Feierlichkeiten einstellte. Die Bilanz ihres Wirkens fiel bescheiden bis beschämend aus: Von den alten Arbeitsplätzen wurden drei Viertel vernichtet.

"Niemals zuvor in der Geschichte einer Industrienation", sagt Hans-Werner Sinn, Chef des Münchner ifo-Instituts, "hat es einen so starken Einbruch der Wirtschaftstätigkeit gegeben." Klaus von Dohnanyi fügt hinzu: "Die neuen Länder wurden nach 1989 weitgehend entindustrialisiert." Die Rückwirkungen auf die Volkswirtschaft des gesamten Landes sind unmittelbar und sie sind gravierender, als es den Einheitspolitikern der ersten Stunde bewusst war.

Die erweiterte Bundesrepublik ist seit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und dem wenig später von Wolfgang Schäuble und Günther Krause ausgehandelten Staatsvertrag ein Land, dessen unproduktive Kruste sich über Nacht enorm ausgeweitet hatte, ohne dass der Energiekern nennenswerten Zuwachs erhielt. Aus der kaum gewachsenen Kernenergie, erwirtschaftet von 27,5 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und zwei Millionen Selbstständigen, muss nun eine zweistellige Millionenzahl an Ostbürgern mitfinanziert werden. Selbst ein großer Teil der Beschäftigten der Ex-DDR, die offiziell mit sechs Millionen angegeben werden, sind keine Beschäftigten im produktiven Sinne, sie liefern nicht die Energie, die sie verbrauchen.

Das Kapital ihres Arbeitsplatzes und oft auch das Geld für die Auszahlung ihres Lohnes wurden zuvor im Westen verdient: Der öffentliche Dienst weist noch einen politisch gewollten Überhang von 30 Prozent gegenüber der Westversorgung mit Staatsbediensteten aus. 47 Prozent aller Erwachsenen in Ostdeutschland bestreiten ihren Lebensunterhalt nach Berechnungen des ifo-Instituts überwiegend aus Sozialtransfers.

Jährlich muss der Westen, so die derzeit bindende Vertragslage, die fünf neuen Bundesländer mit einem Geldgeschenk von rund 85 Milliarden Euro beliefern, weitere knapp 28 Milliarden kommen durch Kredite der Ostländer und andere Kapitalimporte hinzu, so dass die ehemalige DDR einen Großteil der von ihr konsumierten Energie über Steueraufschläge (Solidaritätszuschlag) und gestiegene Sozialabgaben direkt aus dem Kraftzentrum der deutschen Volkswirtschaft absaugt, was die unternehmerische und private Rentabilität der Arbeitsplätze dort spürbar verschlechtert. Nur 18 Milliarden Euro von den insgesamt 113 Transfermilliarden pro Jahr sind privat investiertes Geld.

Von Deutsch-Südwest nach Ostdeutschland

Kulturell ist es so, dass der Westen den Osten dominiert; politisch hat der Westen dem Osten zweifellos sein System übergestülpt, ökonomisch allerdings verhalten sich die Dinge anders: Der Westen wurde im Zuge der Wiedervereinigung zur Kolonie des Ostens. Der zwangsweise erhobene Solidaritätszuschlag und die Sonderleistungen im Rahmen der Sozialkassen entsprechen der von den deutschen Kolonialherren 1910 in Deutsch-Südwestafrika eingeführten Eingeborenen-Kopfsteuer. Der wichtigste Unterschied ist die Höhe der Zahlungen: Alle fünf großen deutschen Übersee-Besitzungen, Kamerun, Togo, Neuguinea, Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika, brachten dem Deutschen Reich zu besten Zeiten nur rund 60 Millionen Mark, was heute rund 300 Millionen Euro entsprechen würde. Die Ex-DDR kassiert im Westen weitaus beherzter ab, um jene "Einheit in Würde" zu erreichen, die der letzte Parteichef der Ost-CDU, Lothar de Maiziere, von Kohl gefordert hatte.

Jährlich liefert Westdeutschland rund 4 Prozent seines Warenausstoßes im Osten ab, was etwa einem Drittel des Bundeshaushalts entspricht. Da der Westen selbst gar nicht um 4 Prozent wächst, sondern in den vergangenen beiden Jahren sogar stagnierte, erfolgt die Belieferung des Ostens aus der Substanz, was sich mittlerweile mit bloßem Auge am Zerfall der öffentlichen Infrastruktur (des Westens) erkennen lässt. Die kommunalen Investitionen der westlichen Bundesländer befinden sich seit zehn Jahren auf Talfahrt, von den einst 30 Milliarden Euro sind 2002 nur 20 Milliarden Euro geblieben.

Klaus von Dohnanyi urteilt: "Diese Leistungen zehren seit Jahren an der Wirtschaftskraft des ganzen Landes. Im Westen, dem Kraftzentrum, beginnen Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen unmittelbar zu leiden."

Der Osten zapft seine Westkolonie keineswegs zur Ertüchtigung der eigenen Wirtschaftskraft an. Das gibt es auch, aber fast schon nebenbei. Die Milliarden fließen zu zwei Dritteln in den Konsum der Ostbürger, werden ausgegeben für Renten, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Kindergeld. ökonomisch ist dieser Konsumtransfer dem zumindest verkündeten Ziel, den Aufbau-Ost voranzubringen, eher hinderlich.

Die einfache Arbeitskraft wird durch hohe Löhne und hohe Lohnersatzleistungen praktisch stillgelegt, weil jeder Unternehmer nun den Staat überbieten muss. Aber wie soll ihm das gelingen? Das Lohnniveau (77,5 Prozent West in 2002) und das Produktivitätsniveau (71,1 Prozent West) machen die Schaffung neuer Arbeitsplätze fast unmöglich. Ostdeutschland ist damit für Kapitalisten das am wenigsten attraktive Land der Europäischen Union. Zwischen Preis und Leistung der Ware Arbeitskraft klafft eine Lücke, für die kaum ein Investor Verständnis aufbringt.

Das Wohlstandsniveau lässt sich mit Hilfe der Westmilliarden steigern, ein sich selbst tragender Wirtschaftskreislauf allerdings kommt so niemals in Gang. Seit etlichen Jahren schon ist klar, dass die Aufbauhilfen für den Osten in Wahrheit einen Transferstaat begründeten, der für die Ewigkeit konzipiert ist.

Der Osten driftet weg

Denn die Angleichung von West-Wirtschaft und Ost-Ökonomie, die Voraussetzung für ein Ende der westlichen Kolonialdienste, ist nicht zu beobachten und auch nicht zu erwarten. Der Osten müsste den Westen dann ja im Wachstumswettbewerb schlagen, Monat für Monat, Jahr für Jahr, um irgendwann gleichzuziehen. Wir beobachten seit fünf Jahren das genaue Gegenteil: Der Osten driftet weg, verschlechtert seine Ausgangslage, lässt die beabsichtigte und notwendige Niveauangleichung damit zur Fiktion werden, ohne dass sich einer in Ostdeutschland daran stört.

Die Produktivität der erwerbsfähigen Personen, also der Anteil derer am Bruttoinlandsprodukt, die arbeiten könnten, hat in den ersten fünf Nachwendejahren einen Sprung von zunächst 30 Prozent auf 60 Prozent des Westniveaus gemacht, ist dort drei Jahre verharrt, um seit 1999 wieder zurückzufallen, auf zuletzt 58 Prozent des westlichen Produktivitätsniveaus.

Diese Zahlen sind geschönt, weil, wie wir wissen, auch hier die zugrunde liegende Berechnung des Bruttoinlandsprodukts nicht danach fragt, woher das Geld für die Löhne kommt: Es kommt aber zu einem Gutteil aus dem Westen, nicht nur bei den Gehältern der Staatsbediensteten. Die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts fragt auch nicht, wie der Auftrag für den Malermeister, den Maschinenbauer, das Straßenbauunternehmen bezahlt wurde, ob aus Steuermitteln-West, aus Schulden-Ost oder aus echten Gewinnen und Gehältern. Aber das Verrückte ist eben: selbst diese staatlich schöngeschminkten Produktivitätskennziffern nehmen ab, was die Dramatik der Lage erahnen lässt.

Kohls Versäumnis: Der Abbau West

Der Rückfall der Ost-Produktivität mag viele verwundern, angesichts der massiven Investitionen von Staat und Privatwirtschaft. Die ostdeutschen Straßen und das Telefonnetz sind mittlerweile hochmodern, viele Betriebe wurden rundum erneuert, bilden regelrechte Hightech-Inseln, deren Kapitalausstattung oft noch vor der des Stammbetriebs im Westen liegt. Doch erstens stehen diese Inseln inmitten einer Zone stillgelegter Produktivität, nur 15 Prozent aller Ostbeschäftigten arbeiten überhaupt in der Industrie, im Westen sind es doppelt so viele.

Zweitens steht diesen hochproduktiven Jobs die noch immer steigende Zahl von Arbeitslosen gegenüber, deren Produktivität mit dem letzten Arbeitstag auf null schrumpft. Eine steigende Produktivität senkt eben, wenn sie mit dem Aussteuern von Mitarbeitern einher geht, die volkswirtschaftliche Produktivität. Denn einer leistet zwar mehr, aber zwei andere nichts mehr, so dass der Durchschnitt automatisch sinkt.

Nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit hat sich die Zahl der Beschäftigten von 1990 bis 1994 um ein Drittel reduziert und ist seither noch mal um knapp 20 Prozent gefallen. Selbst innerhalb der Ostwirtschaft wächst also die Kruste der Volkswirtschaft, derweil der ohnehin kleine Energiekern schmilzt.

Die versicherungspflichtige Beschäftigung geht kontinuierlich zurück, "ohne dass sich eine Verlangsamung der Fallgeschwindigkeit und eine Bodenbildung abzeichnen würden", sagt ifo-Chef Sinn. Auf Dauer hält das keine Volkswirtschaft durch. Die alten Probleme des Westens - ein überdehnter Sozialstaat, die zu hohe Staatsverschuldung, fehlende Innovationskraft und eine zunehmend zerschlissene öffentliche Infrastruktur - potenzieren sich seither.

Das wirkliche Versäumnis Kohls liegt in der Nichtbeachtung dieser Fehlentwicklungen. Er konnte sie nicht kennen, als er die Währungsunion verhandelte, den Staatsvertrag unterschrieb und den Solidarpakt mit den Ländern schmiedete. Danach aber konnte er sie sehen, hören, fühlen, wenn er nur offenen Auges sein Land bereist hätte: Aber er wollte nun nichts mehr sehen, hören, fühlen. Mit der gleichen Sturheit, die ihm in den entscheidenden, den historischen Stunden zur Übergröße verhalf, hatte er nun alle Fehlsteuerungen, die sich aus der überstürzten deutschen Einheit ergaben und zum Teil geradezu zwangsläufig ergeben mussten, einfach ignoriert.

Kohl III. war eine eher traurige Gestalt, der seine stolzesten Momente dann erlebte, wenn er auf Gedenkfeiern und Auslandsreisen an sich selbst erinnern konnte. Diese Rückversicherung in der Geschichte verlieh ihm für einige Stunden wieder historische Größe, die allerdings von nur flüchtiger Beschaffenheit war. Der erstarrte Amtsinhaber betete den Einheitskanzler an, rief ihn zu Hilfe, wann immer er in Bedrängnis kam. Auf Wahlkämpfen stellte er ihn neben sich, als großen Bruder und Bewacher, als spirituelle Erscheinung, die das fahle Gesicht des Amtsinhabers mit dem milden Glanz der Geschichte versorgte.

Heute wissen wir: Kohl ist für beides verantwortlich, die deutsche Einheit und den seither beschleunigten Abstieg des Landes. Deutschland wurde von ihm vereint - und geschwächt.


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