Und darum funktioniert Fernsehen nicht


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Abgeschickt von STRG+C, STRG+V am 26 Mai, 2004 um 17:19:07:


Schönes neues Fernsehen

Von Reinhard Mohr

Dass die Flimmerkiste ein beliebiges "Nullmedium" sei, beklagen Kulturkritiker von jeher. Doch nun zeigt selbst ein unvoreingenommener Blick aufs TV-Programm: Die Quote ist heilig, das Niveau sinkt auf breiter Front - auch bei ARD und ZDF. Verdummt die Nation?



RTL
TV-Star Küblböck: Verramschung letzter Bildungsreste
Die Hölle, das ist der Samstagabend. Wehe dem Unglücklichen, der zu dieser Zeit krank im Bett liegt oder von Freund oder Freundin versetzt wurde! Wehe dem, der gerade eine fesselnde Lektüre beendet hat und für Neues noch nicht bereit ist oder sonstwie weltverloren im Wohnzimmer hockt statt sich dem wirklichen Leben draußen hinzugeben!

Das Fernsehen, ansonsten Hüter der versprengten modernen Seelen und Kaminfeuer unserer Zeit, stürzt den Einsamen an diesem Tag jedenfalls nur in noch tiefere Verlorenheit. Am vergangenen Samstag etwa konkurrierte der "Musikantenstadl" in der ARD mit der "Ultimativen Chart-Show" auf RTL, das "Wie-fit-ist-Deutschland?"-Spektakel im ZDF mit dem "Großen deutschen Prominenten-Buchstabiertest" auf Sat.1. Von der "Volkstümlichen Hitparade" bis zum "Star Duell" und "ZDF in Concert - Sarah Connor" - überall herrscht lärmende Ödnis und grellbunte Tristesse.

Selbst die Dritten Programme der ARD, hier und da noch Retter in der TV-Wüste, bieten unter dem Siegel der Heimatliebe weithin geballte Trostlosigkeit, allen voran der ostdeutsche MDR. Doch auch das Hessische Fernsehen macht seinen Zuschauern ein Angebot des Schreckens. Kleiner Auszug eines beliebigen HR-Abendprogramms im Frühling 2004: 20.15 Uhr: SOS - Haus & Garten; 20.45 Uhr: die Sofashow; 21.15 Uhr: Straßen Stars (mit Rateteam); 21.45 Uhr: Vipshow - Geburtstagsmatinee zum 85. Geburtstag von Liesel Christ. Die Sendung "Herrchen gesucht - Im Porträt: Nymphensittiche" - lief an diesem Tag schon um 15.30 Uhr.

So gibt der verzweifelte Zuschauer auf der Suche nach einem Fernseherlebnis, das ihn für zwei Stunden in eine andere, fremde und spannende Wirklichkeit entführen könnte, irgendwann erschöpft auf - zwischen "Krüger sieht alles", "Bombenterror: Todesangst im Schulbus" und "Boxen live" mit den Klitschko-Brüdern.

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Wenn der Eindruck nicht täuscht, dann hat der Samstagabend im deutschen Fernsehen seit einiger Zeit Signalcharakter für den Rest der Woche. Das Niveau des Programms sinkt auf breiter Front, und der Kampf um die Quote nimmt immer absurdere, fast religiöse Züge an. "Der Samstag ist der Faschist unter den Wochentagen", hämte einst der Kabarettist Matthias Beltz, doch auch wenn man die Satire beiseite lässt, bleibt der Befund: Am Samstagabend zeigt das Fernsehen seine hässlichste Fratze. Sie ist billig und gemein, penetrant gegenwärtig und geschichtslos: einfach deprimierend.



RTL
"Fear Factor"-Moderatorin Zietlow: Qualität spielt keine Rolle mehr
Das einzige, was am deutschen Samstagabend stimmt, ist die Einschaltquote. Fünfzehn Millionen können nicht irren, wetten, dass...? Dass die mit Werbung finanzierten Kommerzsender wie RTL, Sat.1 und ProSieben unentwegt nach gut verkäuflicher TV-Ware fahnden, liegt auf der Hand, so unschön der Drang nach immer neuen Sensationen und vermeintlich allerletzten Tabubrüchen im Namen der Zuschauerbedürfnisse auch sein mag.

Doch längst schon haben auch die öffentlich-rechtlichen Großsender ARD und ZDF den Ehrgeiz entwickelt, im gnadenlosen Rennen um die Zuschauergunst mitzuhalten, koste es, was es wolle. Obwohl mit milliardenschweren Gebühreneinnahmen und einem Rundfunkstaatsvertrag ausgestattet, kopieren sie nur zu gern die massentauglichen Programmideen der Privatsender.

Verpanschung von Geist, Geschmack und Geschichte

"Me-too-Projekte" nennt das ZDF-Intendant Markus Schächter jargontreu - Talkshows, Castingshows, Quizshows, Gameshows, Ostalgie-Shows und seichte Fernsehfilmchen unter Palmen, dazu stunden-, ja tagelange Sportberichterstattungs-Teppiche, in denen vom einwärts auswärts gesprungenen doppelten Rittberger in Stockholm bis zum Stock-Curling in St. Moritz rein gar nichts ausgelassen wird und das Restprogramm auf fünfminütige Kurznachrichten schrumpft. Allein gänzlich unterirdische Sendeformate wie "Big Brother 2", "Dschungelcamp" oder "Fear Factor" überlassen ARD und ZDF einstweilen noch den Schmutzfinken der privaten Konkurrenz.

In dieser schönen neuen Fernsehwelt scheint es sogar der eigentlich unbeugsam seriösen "Tagesschau" angebracht, einen gewiss bedauerlichen, doch allenfalls mittelschweren Zusammenstoß des 18-jährigen Sangesknaben Daniel Küblböck mit einem Gurkenlaster auf einer bayerischen Landstraße zu melden - gerade so, als wären Elizabeth Taylor und Marlon Brando an ein und demselben Tag gestorben.



DPA
ZDF-Chef Schächter: Milliarden Gebühren, Null Niveau
Am Morgen nach der 1:5-Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Rumänien machten die "heute"-Nachrichten im ZDF um neun Uhr die - gewiss blamable - Fußballpleite in einem Freundschaftsspiel zur ausführlichen Topmeldung: Dies an einem Tag, da der israelische Staatspräsident Berlin besuchte, die Antisemitismuskonferenz der OSZE in Anwesenheit von US-Außenminister Colin Powell ihre Abschlusserklärung formulierte und der Kampf um Falludscha wieder einmal eskaliert war.

Zufall oder nicht: Einen Tag zuvor waren die 37. Mainzer Tage der Fernsehkritik - Thema: "Info ohne -tainment" - in schönster Ergebnislosigkeit zu Ende gegangen. ZDF-Intendant Schächter hatte wieder einmal einen weiteren Ausbau der seriösen Informationsprogramme versprochen und ernsthaft behauptet, schon jetzt betrage deren Anteil im Programm unglaubliche 51,3 Prozent. Auf die Frage, welche Sendungen denn hier unter "Information" subsumiert würden - "Aktenzeichen XY... ungelöst", "Volle Kanne", "Hallo Deutschland"? -, wusste auch Programmdirektor Thomas Bellut keine rechte Antwort.

Oder zählt das ZDF etwa auch die unsägliche Ranking-Show "Unsere Besten" zur "Information", bei der im vergangenen Herbst Goethe gegen Gysi antrat und Bohlen gegen Beethoven? "Eine systematische Spekulation der Fernsehsender auf die Dummheit des Zuschauers" nannte die "Zeit" diese besinnungslose Verramschung letzter Bildungsreste, und tatsächlich gab es in letzter Zeit kaum ein anschaulicheres Beispiel für die skrupellose Verpanschung all dessen, was einmal mit Geist, Geschichte und Geschmack zu tun hatte. "Goethe im Sinkflug" meldete Moderator Steffen Seibert nach der neuesten Zuschauerbefragung wahrheitsgetreu.

Auf der Mainzer Tagung jedenfalls hatte der Medienwissenschaftler Siegfried Schmidt diese offenkundigen Grenzverwischungen zwischen Fiktion, Show und Information heftig kritisiert. "Das Fernsehen pflegt seine ganz eigene Art des Wirklichkeitsverlusts", resümierte die "FAZ": Die Programmverantwortlichen seien "sich selbst genug und durch gar nichts zu erschüttern".



DDP
Schlafbereich im Big-Brother-Haus (4. Staffel): Vermeintlich allerletzte Tabubrüche im Namen der Zuschauer
Der scheinbar unerschütterliche Trend zum Infotainment, zur unterschiedslosen Mischung aus Information und Unterhaltung, führt bei einigen Fernsehmachern inzwischen sogar zu dem offenen Bekenntnis, dass Qualität überhaupt keine Rolle mehr spiele: "Gut und schlecht gibt es für mich nicht", sagte RTL-Moderatorin Sonja Zietlow ("Dschungel-Camp", "Fear Factor") dem "Stern". "Ich finde, alles hat seine Daseinsberechtigung, solange die Leute sich dafür interessieren."

Zietlow, 35, die vor Jahren dadurch berühmt wurde, dass sie bei einem Flic Flac in der "Harald Schmidt Show" für Sekundenbruchteile unfreiwillig ihren Slip entblößte, formuliert ganz unumwunden, was gesetzte Programmmacher nur denken. Im Massenmedium Fernsehen gilt die urdemokratische Parole: One Man, One Vote. An der Fernbedienung sind alle gleich - und zehn Millionen, die Karl Moik sehen wollen, sind mehr als 100.000, die sich für "kulturzeit" auf 3Sat interessieren.

Intellektuelle Dauerklagen

Aber klar doch: Kritik am Fernsehen ist so alt wie das Fernsehen selbst, und das dünkelhafte Gejammer über die "Infantilisierung der Fun-Gesellschaft", Titel eines TV-kritischen Sammelbandes, gehört zur Dauerklage von Intellektuellen, die überall und immer schon "organisierte Sprachlosigkeit", "soziale Aphasie" und "postmoderne Beliebigkeit" am Werke sehen. Die traditionelle Medienkritik, die noch von der klassisch bürgerlichen (Selbst-)Aufklärung im Sinne von Kant träumt, hat sich auf ähnliche Weise am unfassbaren Gegenstand totgelaufen wie die gute alte "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno, die noch den unschuldigen Jazz mit dem tödlichen Bann der Kulturindustrie-Kritik belegten.



DPA
Kulturkritiker Adorno: Hilfloses Gejammer über die Infantilisierung der Gesellschaft
So folgenlos die These von der "universellen Verdummung" in der Praxis ist, so fragwürdig ist sie auch in der Theorie: Denn woher käme wohl die messerscharfe Intelligenz all der fernsehsüchtigen Fernsehkritiker und Medienexperten, wenn die Glotze allein das Werkzeug des Blöden und des Bösen wäre?

Und selbstverständlich: Mit der Vervielfachung der überwiegend kommerziellen Fernsehprogramme hat sich auch eine neue, prinzipiell libertäre Haltung zum Fernsehen entwickelt. Erlaubt ist, was gefällt; jeder kann - und niemand muss - dem zusehen, was die Grenzen von Verstand, Stil und Geschmack überschreitet.




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